Mehrsprachigkeit

Mehrsprachigkeit

Wir möchten Ihnen auf dieser Seite ein paar Fakten zum mehrSprachigen Aufwachsen geben, offene Fragen beantworten und mit Mythen aufräumen.

In ganz vielen Teilen der Welt (etwa 70%) sind mehrere Sprachen in einer Gesellschaft gelebte Realität. Damit kann man sagen, dass global betrachtet MehrSprachigkeit die Norm und Einsprachigkeit die Ausnahme ist. Und selbst für Deutschland zeigt der Bildungsbericht von 2016, dass etwa ein Viertel der deutschen Bevölkerung nicht einsprachig deutsch lebt.

Wobei diese Aussage gleich die Frage aufwirft, was MehrSprachigkeit genau bedeutet und welche Menschen denn dazu zählen oder nicht. Eine allgemeingültige Definition gibt es hier allerdings nicht, weil das Konstrukt mit mehreren Sprachen aufzuwachsen so vielfältig und facettenreich ist, dass es sich nicht so leicht definieren lässt. Wie Frau Hofbauer (2018) in ihrem Buch „Sprachen und Kulturen im Kita-Alltag“ aufzeigt, ist eine Frage dabei auch immer von welcher Perspektive wir auf MehrSprachigkeit schauen. Einige Definitionen nehmen beispielsweise das sprachliche Niveau als Ausgangsbasis und sehen als mehrSprachig nur diese Menschen an, die mehrere Sprachen so flüssig sprechen wie einsprachige Menschen (Bloomfield, 1992). In anderen Definitionen ist es ausreichend eine andere Sprache nur etwas verstehen, lesen, sprechen oder aber schreiben zu können (MacNamara, 1967). Mit der Perspektive die Verwendung der Sprachen in den Vordergrund zu rücken, ergeben sich auch wieder andere Definitionen, die beispielsweise Personen als mehrSprachig bezeichnen sobald diese regelmäßig in Alltagsgesprächen verschiedene Sprachen verwenden (Grosjean, 1982) oder auch einfach nur Personen, die sich in mehreren Sprachen wohlfühlen (Kielhöfer und Jonekeit, 2002). Im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext wird vermehrt die zweite Perspektive als grundlegende Definition herangezogen und auch wir schließen uns dieser Sichtweise an. Riehl (2014, S.9) fügt noch hinzu, dass unter Sprachen nicht nur offizielle Nationalsprachen verstanden werden, „sondern auch Regional-, Minderheiten- und Gebärdensprachen und sogar Sprachvarietäten wie Dialekte.“ Wir möchten diese Aufzählung sogar um die Alltagssprache und Bildungssprache ergänzen.

Gedankenexperiment: Was heißt für Sie „mehrSprachig sein“? Überlegen Sie kurz, was das für Sie bedeutet und welche Erwartungen Sie an mehrSprachige Menschen haben. Die folgenden Impulse helfen Ihnen vielleicht dabei.

  • Welche Sprache(n) spreche ich?
  • In welchen Situationen wende ich welche Sprache(n) an?
  • Welche Sprache(n) kenne ich aus meiner Familie?
  • Sehe ich mich selbst als mehrSprachig an? Warum (nicht)?
  • Möchte ich mehrSprachig sein? Möchte ich, dass meine Kinder mehrSprachig sind?
  • Spreche ich einen Dialekt? Ist das auch eine „andere Sprache“?
  • Was denke und was erwarte ich, wenn eine Person mir sagt, dass sie „mehrSprachig aufwächst“?
  • Finde ich mehrSprachiges Aufwachsen mit beispielsweise Englisch „besser“ als mit Arabisch? Warum (nicht)?
  • Verändere ich automatisch meine Sprache, wenn ich merke, dass mein Gesprächspartner mehrSprachig ist? Warum (nicht)?

Rosemarie Tracy (2008) fasst die Schwierigkeit in ihrem Buch „Wie Kinder Sprachen lernen“ so zusammen: „Es ist unrealistisch zu erwarten, dass sich ein bilingualer Mensch in allen seinen Sprachen mit beliebigen Gesprächspartnern voller Begeisterung über alle möglichen Themen gleichermaßen flüssig und rhetorisch gewandt unterhalten kann oder unterhalten will.“ (S.51). Und wenn wir ganz ehrlich sind, ist das ja auch bei einsprachigen Menschen so – nicht über jedes Thema können wir uns mit jedem Gesprächspartner flüssig und rhetorisch gewandt unterhalten. Rosemarie Tracy gibt ebenso zu bedenken, dass häufig jegliche Abweichungen oder fehlende Kenntnisse im Vergleich des einsprachigen zum mehrSprachigen Aufwachsen der mehrSprachigen Lebenssituation zugeschrieben werden.

MehrSprachige Kinder entwickeln sich jedoch genauso wie es einsprachige Kinder tun. Manche mit mehr Herausforderungen bei der sprachlichen Entwicklung, andere mit weniger. MehrSprachige Kinder können sprachlich stark sein oder ihre Stärken wiederum in anderen Bildungsbereichen haben, genauso wie dies bei einsprachigen Kindern auch der Fall ist.

MehrSprachigkeit oder in enger Verknüpfung mit diesem Begriff der Migrationshintergrund ist also nicht per se ein beeinträchtigender Faktor, sondern unterschiedliche Einflüsse und Lebenslagen können unterschiedliche Auswirkungen zeigen (vgl. Chilla, Niebuhr-Siebert, 2017). Wir können also festhalten, dass MehrSprachigkeit eine Chance für die Kinder und Familien darstellt, aber keine Überforderung ist.

Welche Möglichkeiten haben Sie als Bezugsperson, ob nun Eltern/Familien, pädagogische Fachkraft oder Elternbegleiter*in, die Kinder bei ihrem Spracherwerb zu unterstützen?

Chilla und Fox Boyer (2016) sagen dazu in ihrem Buch „Zweisprachigkeit/Bilingualität. Ein Ratgeber für Eltern“: „bei allen Kindern, egal ob mehrsprachig oder einsprachig aufwachsend, verläuft die Entwicklung der Sprache sehr individuell und ist abhängig davon welches quantitative und qualitative Angebot an Sprache zur Verfügung steht, wie die individuellen Möglichkeiten sind und welche Motivation von innen und außen besteht.“

Wichtig ist, dass regelmäßiger und umfangreicher Kontakt zu allen Sprachen besteht und Kommunikationssituationen in allen Sprachen erlebt werden können und dürfen (hierzu gehört Spiel, gemeinsames Lesen, Lieder/Musik und Gespräche). Ebenso vorteilhaft ist, wenn die Vorbildfunktion gelebt wird, also Kinder erleben, dass ihre Bezugspersonen ebenso Medien, Bücher etc. im Alltag in allen Sprachen verwenden. Weiterhin hilfreich für Kinder ist es, wenn eine grundlegend wertschätzende Haltung besteht, Kinder ihre Sprachen in Gesprächen nutzen dürfen und sich in ihrer mehrSprachigen Realität auch in den Bildungseinrichtungen repräsentiert sehen.

Nicht unterschätzt werden darf die Bedeutung der Familiensprache als Einflussfaktor. Sie ist besonders relevant für die Entwicklung der Identität, weil Kinder mit ihr anfangen die Welt zu entdecken und erste Möglichkeiten erhalten Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle auszudrücken und somit sich ein Bild über sich selbst zu machen.

Außerdem prägt die Familiensprache das Wissen welches Kinder über Sprache haben, auch wenn sie das natürlich nicht konkret ausdrücken können. Dennoch greifen sie darauf beim weiteren Lernen zurück. Wie die Gesellschaft bzw., im kleineren Rahmen, Bezugspersonen eine Sprache bewerten (Denken sie vlt. an das Prestige von Englisch oder im Gegensatz dazu Arabisch) und dementsprechend welche Haltung gegenüber Sprechern dieser Sprache vermittelt wird, prägt auch wie erfolgreich der Erwerb einer weiteren Sprache verläuft. (Scharff Rethfeldt, 2013)

Eine häufig kontroverse Sicht gibt es auch immer wieder auf die Frage, ob Sprachmischungen schädlich sind. Da es wissenschaftliche Belege dafür gibt, dass die Trennung zwischen Sprachen, die ein Kind erwirbt, schon sehr früh stattfindet, ist das Argument, dass Sprachmischungen ein Zeichen von unvollständigem bzw. fehlerhaftem MehrSpracherwerb seien, entkräftet. Im Gegenteil gibt es viele Beweise, dass Sprachmischungen Teil der natürlichen Kommunikation und Identität in mehrSprachigen Familien sind und damit Zeichen für ein kompetentes Sprachverhalten. Hier können wir uns als Bezugsperson also einfach gelassen zurücklehnen und die Kinder für ihre Kompetenzen im MehrSpracherwerb bewundern und ihre inhaltlichen Aussagen in den Fokus rücken um mehr von ihrer Weltsicht zu erfahren. (Panagiotopoulou, 2016; Chilla & Fox-Boyer, 2016)

Abschließend noch ein letzter Abschnitt zu den teilweise vorherrschenden Sprachverboten in Bildungseinrichtungen.

Dazu möchten wir Sie, anlehnend an eine Übung aus Frau Hofbauers Buch (S.46, 2018), zunächst zu einem weiteren Gedankenexperiment einladen:

Stellen Sie sich vor, dass Sie gerade an einem intensiven Sprachkurs im Ausland teilnehmen. In der Mittagspause treffen Sie eine weitere deutschsprachige Person und unterhalten sich zwanglos ein wenig. Als der Kursleiter an Ihnen vorbeikommt, sagt er „Hier wird aber nicht Deutsch gesprochen“. Wie fühlen Sie sich? Warum? Was könnte diese Aussage mit ihrem Gespräch machen?

Was bedeutet das für die Kinder?

Dazu ein kurzer Hintergrund zur Lernmotivation von Kindern. Sie lernen häufig aus zwei verschiedenen Motivationen heraus. Zum Einen, weil etwas interessant und faszinierend ist oder zum Anderen aus einer dringenden Notwendigkeit, zum Beispiel um ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Schaut man sich diese beiden Voraussetzungen für Lernen an, wird klar, dass ein Sprachverbot nicht zwingend den erwarteten positiven Effekt auf den Deutscherwerb mitbringen wird. Gerade wenn dieses Verbot besteht, ohne dass ein ersichtlicher und nachvollziehbarer Grund dahinter steht. Ein ganz wesentlicher Punkt an dieser Stelle ist noch, dass gute Beziehungen das Lernen zum Positiven hin beeinflussen. Dies gilt natürlich auch für Sprachlernen – daher sollte dem Ausbilden einer guten und tragfähigen Beziehung eine wichtige Rolle zukommen.

Darüberhinaus ist es aber die Aufgabe pädagogischer Fachkräfte in den Bildungseinrichtungen die Kinder und ihr Sprachverhalten zu beobachten und anschließend zu reflektieren, ob und in welchem Maße die Kinder Gelegenheiten haben Deutsch zu sprechen und ob möglicherweise Änderungen in der Struktur, dem Angebot oder der Ansprache nötig sind um den qualitativen Input zu erhöhen.

Quellen und Literaturhinweise:

  • Bloomfield, L. (1992). Language. Fourth Edition. Chicago: University of Chicago Press
  • Chilla, S. & Niebuhr-Siebert, S. (2017). Mehrsprachigkeit in der Kita. Grundlagen-Konzepte-Bildung. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Chilla, S. & Fox Boyer, A. (2016). Zweisprachigkeit/ Bilingualität. Ein Ratgeber für Eltern. 2. Überarbeitete Auflage. Idstein: Schulz Kirchner.
  • Grosjean, F. (1982). Life with Two Languages. Cambridge, Mass.: Harvard University Press
  • Hofbauer, Ch. (2018). Sprachen und Kulturen im Kita-Alltag. Freiburg: Herder.
  • Kielhöfer, B. & Jonekeit, S. (2002). Zweisprachige Kindererziehung. 11. Auflage. Tübingen: Stauffenburg.
  • MacNamara, J. (1967). The bilingual’s linguistic performance: A psychological overview. Journal of Social Issues 23, S. 59-77.
  • Panagiotopoulou, A. (2016). Mehrsprachigkeit in der Kindheit. Perspektiven für die frühpädagogische Praxis. Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, WiFF-Expertisen, Band 46. München. Online: Zur PDF
  • Riehl, C. (2014). Mehrsprachigkeit. Eine Einführung. Darmstadt: WBG
  • Scharff Rethfeldt, W. (2013). Kindliche Mehrsprachigkeit. Grundlagen und Praxis der Sprachtherapeutischen Intervention. Stuttgart: Thieme.
  • Tracy, R. (2008). Wie Kinder Sprachen lernen und wie wir sie dabei unterstützen können. Tübingen: Francke Verlag.